Ein Bericht aus der Unterrichtspraxis von Rita Kenntemich mit ihrer 5. Klasse am Detlefsengymnasium.
Ein Roman mit 342 Seiten als Schullektüre für einen 5. Jahrgang??? Kann das vor dem Hintergrund des heutigen Lese- und Medienverhaltens vieler Schüler gut gehen?
Ich empfand die Lektüre jedenfalls als eine Herausforderung bei nahezu 30 Schülern mit unterschiedlichsten Interessen – von Schnell- und Viellesern bis hin zu Nichtlesern.
Auch beschäftigten mich folgende Fragen: Springt der `Lese- Funke` nicht nur bei mir, sondern auch bei den Schülern über? Weckt der Inhalt Interesse und können gleichzeitig die Anforderungen des Deutschunterrichtes erfüllt werden? Theoretisch schien mir dies alles möglich, aber würde mich die Unterrichtspraxis eines Besseren belehren???
Um es kurz vorweg zu sagen: Diese Unterrichtseinheit war tatsächlich sehr lehrreich für mich, denn sie zeigte
- dass auch die bisherigen `Nichtleser` es schafften, alle 342 Seiten mit Begeisterung zu lesen
- dass sich die Schüler bei der Besprechung der Lektüre im Unterricht außergewöhnlich interessiert und engagiert zeigten
Ein wichtiger Grund dafür ist sicherlich der Bezug des Romans zur Lebenswirklichkeit der Schüler und zu aktuellen Themen, die für sie von großer Bedeutung sind.
Die Hauptfiguren Christian und Wiebke sind 13 Jahre alt, besuchen ein Gymnasium in Glückstadt und erleben Freundschaft, Mobbing Rassismus und den Umgang verschiedener Generationen miteinander. Besonders beeindruckt waren die Schüler von dem etwas `schrullig` wirkenden Opa „Fiete“, der sich für Christian im Laufe der Handlung zu einer ganz besonderen Bezugsperson entwickelt.
Mit diesen Themen sind die Schüler vertraut oder davon sogar unmittelbar betroffen. Sie können sich dadurch in die Geschichte hineinversetzen und Empathie für die Charaktere entwickeln.
Dies sind elementare Voraussetzungen für das Lernziel, das Weltbild und Weltverständnis der Schüler zu erweitern und zu differenzieren. Nicht nur das korrupte Verhalten Erwachsener (Herr Rupert, Herr Möller), sondern auch die weisen Ratschläge von Christians Mutter und seiner Oma bieten zudem viele Anregungen zur Förderung der Identitätsentwicklung und der Werte- bzw. Moralerziehung.
Dies geschieht jedoch nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern wird sprachlich humorvoll, oft salopp und durchsetzt mit dem erfrischenden nordischen Dialekt („Klugschieter“) dargeboten. Etliche Wortneuschöpfungen („Flüsterheini“ für Hörgerät), Redewendungen und bildhafte Sprache (Vergleich des mobbenden Boris` mit einer Riesenamöbe) sprechen die Schüler an und ermöglichen gleichzeitig, sprachlich-stilistische Merkmale und ihre Wirkung zu erarbeiten.
Auch kann mit dem Roman eine erste Hinführung zu den verschiedenen Literaturgattungen/ Genres erfolgen. Er enthält Elemente von Kriminal-, Detektiv- und Fantasyromanen (Kompass). Hier werden nicht nur verschiedene Vorlieben der Schüler bedient (Spannung, Abwechslung, Humor, ansprechender Sprachstil), sondern es können – ganz nebenbei – auch erste Erkenntnisse über literarische Formelemente vermittelt werden.
Der Roman ermöglicht die Einübung zahlreicher Schreibformen, die im Lehrplan vorgesehen sind, so zum Beispiel den Tagebucheintrag, die Rollenbiografie, die Argumentation, die Charakterisierung, die Nacherzählung, das Schreiben aus anderer Perspektive oder auch das Lesetagebuch.
Auch bietet sich der Roman für fächergreifenden Unterricht an. So können im Philosophie-/ Religionsunterricht z.B. die Themen `Mobbing` oder `Raffgier/ korruptes, unehrliches Verhalten` vertieft werden, im Geschichtsunterricht die zahlreichen historischen Bezüge und im Geografie-Unterricht die Stadt Glückstadt. Letztere ist sicherlich nicht nur für die Schüler aus Glückstadt interessant, bietet ihnen aber besondere Anreize zur Identifikation. Nicht zuletzt kann auch im Kunstunterricht zu diesem Buch gearbeitet werden. Dabei lohnt es sich, das Cover und die Bilder im Buch einzubeziehen.
Mein Resümee: Dieser Roman ist eine Herausforderung, die sich lohnt!
Er bietet nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich zahlreiche Möglichkeiten, die wichtigen Lernziele des Deutschunterrichtes umzusetzen, ohne dabei die Schüler zu verlieren. Ihre intrinsische Motivation, hervorgerufen durch den Realitätsbezug, ihre eigene Betroffenheit, die spannende Handlung und die humorvolle Sprache, trägt entscheidend zum Lernerfolg bei.